Für ein Leben ohne Einschnitte

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Die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte gehört zu den häufigsten Deformitäten bei Kindern. Sie tritt in Deutschland bei jedem 500. Neugeborenen auf. Neben der optischen Fehlbildung macht sich die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte durch eine auffällige Sprache und eine gestörte Kauffunktion bemerkbar. Mit der sogenannten NAM-Methode erzielt die Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Uniklinik RWTH Aachen beeindruckende Erfolge bei der Behandlung der angeborenen Fehlbildung. Unterstützt wird die Therapie von der Stiftung Universitätsmedizin Aachen.

Unter dem Begriff der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte fassen Ärztinnen und Ärzte angeborene Fehlbildungen zusammen, bei denen Lippen, Oberkiefer und/oder Gaumen nicht vollständig zusammengewachsen sind. Sie zählen zu den häufigsten Fehlbildungen. Alles in allem sind Jungen dezent häufiger betroffen als Mädchen. Mediziner unterscheiden mehrere Ausprägungen: In etwa 20 Prozent der Fälle handelt es sich um reine Lippen- oder Lippen-Kiefer-Spalten. Komplette Lippen-Kiefer-Gaumenspalten sind mit ungefähr 50 Prozent die häufigste Krankheitsform. Isolierte Gaumenspalten, die Mädchen etwas häufiger treffen als Jungen, machen die übrigen 30 Prozent aus. Wissenschaftler konnten trotz aufwendiger Forschung die exakte Entstehungsursache bis heute nicht genau herausfinden, sie gehen aber davon aus, dass viele Faktoren eine Rolle spielen, die eine Spaltbildung offenbar begünstigen, wenn sie in der empfindlichen Phase der Gesichtsentwicklung einwirken. Dazu gehören unter anderem Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum, eine Erkrankung der Mutter, Folsäure-Mangel, eine Überdosierung der Vitamine A und E sowie starker Stress. Den Genen des Vaters und der Mutter wird ebenfalls ein entscheidender Einfluss zugeordnet, die genauen Zusammenhänge können sogar zum Teil exakt benannt werden. „Die Art der Behandlung hängt von der Form und dem Schweregrad der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte ab. In allen Fällen bleibt das Therapieziel jedoch immer gleich: Die Ärztinnen und Ärzte wollen bei den betroffenen Kindern ein normales äußeres Erscheinungsbild erreichen und eine gute Sprach-, Hör-, Ess-, Trink- und Atmungsfunktion herstellen“, erklärt Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Frank Hölzle, Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie an der Uniklinik RWTH Aachen. Die Eltern sollten die Behandlung ihres Kindes daher am besten in einem auf die Fehlbildung spezialisierten Zentrum durchführen lassen. Dort arbeiten Fachleuchte aus verschiedenen Disziplinen wie Kinderärzte, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen, Kieferorthopäden, HNO-Ärzte, Phoniater sowie Logopäden und Psychologen zusammen, um dem Kind eine unbeeinträchtigte Entwicklung ermöglichen zu können.

NAM-Methode liefert sehr gute Ergebnisse
An der Aachener Uniklinik wird das sogenannte NAM-Verfahren – Nasoalveolar Molding – praktiziert, welches ursprünglich in den USA entwickelt wurde. In Deutschland setzen bisher nur wenige spezialisierte Zentren auf diese Methode. Kinder, die unter einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte leiden, erhalten nach Geburt eine Gaumenplatte, die den Spalt am Gaumen verdecken soll, um das Füttern des Kindes zu ermöglichen. Die bei der NAM-Methode erstellte Gaumenplatte ist mehr als nur eine reine Trinkplatte: Bereits kurz nach der Geburt werden aus weichem Silikonmaterial Abformungen des Oberkiefers (Abb. 1) und der Nase (Abb. 2) angefertigt. Zum Teil gelingen diese Abformungen auch kontaktlos mit sog. Intraoralscannern. Diese Abformungen dienen der Herstellung der NAM-Gaumenplatte, mit deren Hilfe es gelingt, den Schweregrad der Deformität der später zahntragenden Oberkiefersegmente zu reduzieren und die Zungenlage zu regulieren. Mit weiteren Hilfsmitteln und Modifikationen, wie Klebestreifen oder einem Nasensteg, wird die Deformation der Lippe und der Nase in ihrer Schwere weiter reduziert (Abb. 3). „Dies geschieht bereits in den ersten drei Lebensmonaten, wenn der Knorpel des Kindes noch sehr gut formbar ist. Die NAM-Gaumenplatte wird regelmäßig kontrolliert und muss alle paar Wochen angepasst und erneuert werden. Aber der Aufwand ist es wert. Die Kinder erlernen, selbstständig zu trinken und haben meistens im Umgang mit der NAM-Platte keine Probleme. Für die Eltern bietet sie zusätzlich die Möglichkeit, den Heilungsprozess ihres Kindes aktiv zu unterstützen. Nach kurzer Zeit der Eingewöhnung und Übung sind sie im Umgang mit der NAM-Platte bei ihren Kindern oft geschickter und effizienter als wir Behandler“, sagt Prof. Hölzle.

Ablauf der Behandlung
Um die Therapieziele erreichen zu können, müssen sich die Kinder in der Regel mehreren Operationen unterziehen: „Leider können nicht alle Operationen gleichzeitig und möglichst früh erfolgen. Der Grund dafür liegt darin, dass zu früh vorgenommene Operationen an bestimmten Abschnitten der Spalte, besonders am harten Gaumen, zu Wachstumsstörungen führen können, während zu spät erfolgende Operationen, beispielsweise am weichen Gaumen, mit einer verzögerten oder fehlerhaften Sprachentwicklung verbunden sind. Aus jahrzehntelangen Erfahrungen in der Spaltchirurgie sind heute die besten Operationszeitpunkte für jeden Abschnitt der Spalte bekannt, wobei es trotzdem noch von Klinik zu Klinik Unterschiede geben kann. Die meisten großen Zentren in Deutschland operieren jedoch nicht nur nach einem sehr ähnlichen Zeitplan, sondern auch mit den gleichen, bewährten Techniken“, erläutert Prof. Hölzle. Die erste Operation findet in der Regel rund drei bis fünf Monate nach der Geburt statt. Die Kinder sollten aufgrund der notwendigen Narkose ein Körpergewicht von mindestens fünf Kilogramm aufweisen. Bei diesem Eingriff verschließen die Chirurgen die Lippe des Kindes (Abb. 4), um ein bestmögliches funktionelles und ästhetisches Ergebnis für das Kind zu erreichen. Der Eingriff soll die Narbenbildung im Gesicht vermindern und wenn möglich weitere Folgeoperationen vermeiden. Ab dem neunten bis zehnten Lebensmonat des Kindes findet üblicherweise eine zweite Operation statt, bei der die Chirurgen den Gaumen verschließen. Wichtig ist, dass dieser Eingriff früh genug vor dem Spracherwerb stattfindet. Dabei können Weich- und Hartgaumen getrennt voneinander oder in einem Eingriff verschlossen werden. Ziel muss es aber in jedem Fall sein, dass der komplette Gaumen spätestens bis zum 2. Geburtstag des Kindes verschlossen ist. Erst in einem Alter von acht bis zehn Lebensjahren findet die notwendige Operation zum Verschluss des Kiefers statt. Anschließend werden gemeinsam mit der Kieferorthopädie die Zähne zu einem möglichst perfekten Zahnbogen ausgeformt und der Behandlungserfolg durch Sprachtherapeuten unterstützt (Abb. 5). Gegebenenfalls sind – beispielsweise auch aufgrund von Begleiterkrankungen – weitere Basis- oder Korrekturoperationen notwendig, um ein optimales Behandlungsergebnis zu erreichen. „In den meisten Fällen können wir durch unsere interdisziplinäre Zusammenarbeit und unsere Verfahren die Therapieziele erreichen. Den Kindern und ihren Eltern müssen wir dazu bei einer Vollausprägung einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte mindestens drei operative Eingriffe und sehr viele Arztbesuche abverlangen. Wir wissen, dass das einiges an Geduld und Aufopferung erfordert. Wenn unsere Patientinnen und Patienten dann aber irgendwann das Teenager- bzw. das Erwachsenenalter erreicht haben und wir die Erfolge der Behandlung sehen, dann war es jede Mühe wert. Es hat für die Familien immer eine sehr große Bedeutung, dass ihre Kinder ein normales Leben führen können. Wir geben von Herzen gerne jeden Tag alles, um sie auf diesem Weg bestmöglich dabei zu unterstützen und zu begleiten“, sagt Prof. Hölzle.

Stiftungsgelder helfen, wenn die Krankenkasse nicht zahlt
Obwohl die Vorteile der NAM-Methode durch zahlreiche wissenschaftliche Studien und Publikationen belegt sind, werden die relativ hohen Kosten, die aufgrund von Maßanfertigung und Handarbeit entstehen, nicht von jeder Krankenkasse übernommen. In Fällen, in denen die finanzielle Belastung einer NAM-Behandlung im Wege steht, hilft die Stiftung Universitätsmedizin Aachen. Sie stellt rund 30.000 Euro für das Projekt zur Verfügung.

Abb. 1) Speziell für Säuglinge hergestellte Abformlöffel
Abb. 2) Abformung der Nase bei doppelseitiger Spalte vor (links) und nach (rechts) der NAM-Therapie mit gut sichtbarem ausgeformten Nasensteg vor der Operation
Abb. 3a) NAM-Gaumenplatte für eine einseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte
Abb. 3b) Pat. mit doppelseitiger Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalte mit Platte für die NAM Therapie
Abb. 4a) Präoperativ: doppelseitige Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalte
Abb. 4b) Postoperativ nach Lippenverschluss
Abb. 5) Zustand nach Verschluss des Kiefers 1 Woche postoperativ noch mit Nahtmaterial und festsitzender Zahnspange
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