Dass Wolfgang W. diesen Jahrhundertsommer wieder im eigenen Garten verbringen konnte, grenzt für ihn an ein Wunder. Genau vor einem Jahr brach der 72-Jährige mit akuter Atemnot bei seinem Hausarzt zusammen. In der Uniklinik RWTH Aachen retteten die Ärzte sein Leben. Auf der Weaningstation (engl. „to wean“ = „abstillen“) lernte er nach neun Tagen künstlichen Komas langsam wieder, selbst zu atmen. Ein langer Weg, der sich gelohnt hat. Heute ist Wolfgang W. zwar nicht geheilt, doch sein Leben und jeden Atemzug kann er genießen.
So wie Wolfgang W. geht es vielen Patienten: Nach einer schweren Erkrankung, einer Operation oder einem Unfall fällt die Spontanatmung aus oder wird zu schwach. Der Patient muss künstlich beatmet werden – manchmal über Wochen hinweg. Während die Rückkehr zur Spontanatmung nach einer kurzen Narkose kaum ein Problem darstellt, ist die Entwöhnung eines Intensivpatienten nach längerer Beatmungsdauer ein schwieriger Prozess, der Tage oder Wochen in Anspruch nehmen kann.
Das Ziel: Patienten möglichst schnell in ein Leben ohne Atemhilfe entlassen.
Um diesem Problem wirkungsvoll zu begegnen, gibt es in der Klinik für Pneumologie und Internistische Intensivmedizin (Medizinische Klinik V) an der Uniklinik RWTH Aachen eine hochspezialisierte Station, auf der mit den Patienten das eigene Atmen geübt wird. Auf der sogenannten Weaningstation, einer gemeinsamen, interdisziplinären Station mit der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care, werden Langzeitpatienten langsam von der Beatmungsmaschine, dem Respirator, entwöhnt. „Ein Großteil der Patienten hat mit der Verlegung auf die Weaningstation die akute Erkrankung bereits weitgehend überwunden, ist aber immer noch von der künstlichen Beatmung abhängig“, erklärt Univ.-Prof. Dr. med. Michael Dreher, Direktor der Klinik für Pneumologie und Internistische Intensivmedizin. Denn eine dauerhafte Spontanatmung sei für Menschen, die länger als eine Woche künstlich beatmet wurden, schwierig. „Die Atemmuskulatur ist durch diesen langen Stillstand geschwächt. Alleine das Zwerchfell, der größte ‚Atemmuskel‘, baut bereits nach 24 Stunden messbar ab.“ Verschiedene Grunderkrankungen und das hohe Alter vieler Patienten tun ihr übriges, dass die Kraft fürs selbstständige Luftholen fehlt.
Unabhängig davon, worin die Ursachen für eine Langzeitbeatmung liegen: Auf der Weaningstation steht für alle die Entwöhnung im Vordergrund. Das interdisziplinäre Team legt alles daran, die Patienten möglichst schnell in ein Leben ohne Atemhilfe zu führen. Es werden strukturierte Behandlungspläne erstellt, die immer wieder an die besondere Situation der Patienten angepasst werden. Wie gut die Zusammenarbeit auf der Station funktioniert, beweist das Zertifikat Weaning, das die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin erstmalig in Deutschland vergeben hat – und zwar an die Uniklinik RWTH Aachen.
Dieses Zertifikat dient der Qualitätsprüfung der Beatmungsentwöhnung und somit einer vorrangigen Disziplin der anästhesiologischen Intensivmedizin. Wer dieses Zertifikat erhält, entspricht in seiner Ausstattung, seiner Behandlungsweise und seiner Organisation den höchsten Qualitätsansprüchen. Weiterhin wurde die Station von der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin im Jahre 2014, ein Jahr nach ihrer Eröffnung, ebenfalls zertifiziert. Somit wurde die interdisziplinäre Weaningstation durch zwei Fachgesellschaften ausgezeichnet.
Interdisziplinäres Zusammenspiel
Das erste, wichtige Behandlungsziel ist es, nach langfristiger Therapie die Beatmungsunterstützung durch ein Beatmungsgerät stufenweise zu reduzieren, bis das eigene Atmen wieder möglich ist. Das bedeutet, dass das Atmen durch den Wechsel aus assistierter Beatmung und Phasen der Spontanatmung ohne Beatmungsgerät zurückerlernt wird. Die Phasen der Spontanatmung werden dabei immer länger. In den Ruhephasen mit Beatmung kann sich der Patient – ähnlich wie nach dem Sport – wieder erholen. „Diese Prozedur verlangt viel Kraft“, erklärt Priv.-Doz. Dr. med. Tobias Müller, Leitender Oberarzt der Klinik. Auch Wolfgang W. erinnert sich an die ersten Atemversuche: „Das Atmen neu zu erlernen, war sehr anstrengend“, sagt er. „Anfangs hat man das Gefühl, es nicht alleine zu schaffen und zu ersticken. Doch mit der Zeit wird es besser, jeden Tag ein wenig.“
Daran hat die Physiotherapie einen erheblichen Anteil. Sie ist ein wichtiger Bestandteil der Behandlung und wird schon früh eingesetzt. Speziell in der Atemtherapie geschulte Physiotherapeuten behandeln die Patienten zu jeder Phase des Weaning-Prozesses, das heißt von der ersten Mobilisation durch passives Bewegen der Extremitäten bis hin zu Gehversuchen. Oberste Ziele sind die muskuläre Konditionierung, also der Aufbau von Muskeln und Kondition, die der Patient im Alltag benötigt, sowie die Zwerchfellaktivierung, die eigenständiges Atmen erst wieder möglich macht. Hinzu kommen das Sekretmanagement, bei dem den Patienten das Abhusten erleichtert wird, und individuelle Mobilisationsmaßnahmen je nach Zustand der Patienten. Die Maßnahmen werden täglich innerhalb des Teams neu definiert und berücksichtigen den individuellen Zustand jedes Einzelnen. Für das Wiedererlernen des Schluckens und des Sprechens, das durch Luftröhrenschnitt und Trachialkanüle stark eingeschränkt sein kann, wird das Behandlungsteam durch einen Logopäden ergänzt.
Auch die psychologische Betreuung der Patienten spielt auf der Weaningstation eine große Rolle. Denn aufgrund der schweren Erkrankung, teilweise wochenlanger Liegezeit im Krankenhaus und damit einhergehender fehlender Selbstbestimmung sowie eingeschränkter Kommunikationsmöglichkeiten während der Intensivbehandlungsphase entwickeln viele Patienten und Angehörige Ängste und Sorgen. Wie wird die Zukunft? Wie geht es zu Hause weiter? Werde ich wieder gesund? Auch Wolfgang W. hat sich diese Fragen gestellt und nicht immer eine positive Antwort darauf gefunden. „An manchen Tagen bin ich in ein tiefes Loch gefallen“, berichtet er. „Da war es gut, dass Ärzte und Schwestern mir Mut gemacht haben und ich die professionelle Hilfe nutzen konnte.“
Ganzheitliche Behandlung
Wolfgang W. in seiner Genesung unterstützt: „Die Bedingungen auf der Station sind mit denen auf einer normalen Intensivstation kaum zu vergleichen. Die Ruhe im Einzelzimmer, keine festen Besuchszeiten – das war gut. Meine Frau durfte stets an meiner Seite sein.“ Besonders wohltuend war für den 72-Jährigen das Gefühl von Heimat. „Die Schwestern schlugen meiner Frau vor, doch etwas Selbstgekochtes für mich mitzubringen. Die Blumenkohlsuppe meiner Frau hat mich vielleicht nicht gerettet, doch für mich ging es ab diesem Tag wirklich aufwärts. Das tat so gut!“, sagt er.
„Das Atmen neu zu erlernen, war sehr anstrengend.“
Patient Wolfgang W.
Am Ende des dreiwöchigen Aufenthalts auf der Weaningstation konnte Wolfgang W. sogar wieder alleine gehen und schließlich in die Reha entlassen werden. Wie ihm geht es rund einem Drittel der Patienten – sie können nach zwei bis drei Wochen dauerhaft selbstständig atmen.
Doch nicht bei jedem Patienten hat die Entwöhnung vom Beatmungsgerät Erfolg. Für die Patienten, deren Atmungsfunktion nach der akuten Erkrankung nicht wieder vollständig hergestellt werden kann, wird überprüft, ob eine nicht-invasive Beatmung über eine Maske mit einem Beatmungsgerät eingeübt werden kann. In einigen Fällen muss ein Luftröhrenschnitt dauerhaft bestehen bleiben, über den eine Beatmungsunterstützung erfolgt.
Schulung zur Entlassung
Je nach klinischem Verlauf wird in jedem Fall durch professionelle Hilfe eine integrierte Überleitung in eine spezialisierte Pflegeeinrichtung oder eine ambulante häusliche Pflege vorbereitet. Patienten und Angehörige werden dann auf der Weaningstation über die richtige Behandlung und im Umgang mit der Medizintechnik geschult. Bei dauerhafter Beatmung, ganz gleich welcher Form, können Patienten jederzeit bei Problemen wieder aufgenommen werden. So stellt die Uniklinik RWTH Aachen eine ganzheitliche Behandlung bis in den außerklinischen Bereich sicher.
Wolfgang W. hat nach seinem Aufenthalt sein neues Leben begonnen. Gemächlicher ist es geworden und seine Lungenkrankheit fordert einige Abstriche. „Doch das Glück überwiegt und so habe ich die Weaningstation nur als Besucher wiedergesehen“, sagt er. „Ich war so dankbar, dass ich wiederkommen musste. Mit guter Gesundheit, einem starken Atem und einer großen Torte für alle im Team.“