„Mein Tag beginnt mit einer warmen Dusche. Schnell geht hier nichts, das nimmt alles viel Zeit in Anspruch. Meine Frau hilft mir dabei.“ So schildert Robert Scholl seinen Start in den Tag. Die Wege im Haus und im Garten legt er mit einem Stock zurück, für alle anderen Strecken nutzt er den Rollator. Das klingt nach einem betagten Mann – doch der Dürener ist erst 48 Jahre alt. Fünf Jahre zuvor, mit 43, machten ihm ein paar harmlose Darmpolypen zu schaffen – dachte er. Denn bei der Entfernung entdeckten die Ärzte einen 3 mal 7 Zentimeter großen Tumor in seinem Darm.
„Ich war geschockt und brauchte erst einmal 14 Tage, um das alles zu verarbeiten“, berichtet der zweifache Familienvater. Nach den besagten zwei Wochen folgte die Entfernung des Tumors mit vorübergehender Anlage eines Ileostomas, eines künstlichen Dünndarmausgangs, mit anschließender Chemo und Bestrahlung. Im Jahr 2016, Robert Scholl ging es schon etwas besser, wurde der künstliche Darmausgang in der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie an der Uniklinik RWTH Aachen zurückverlegt. Doch das „normale“ Leben war nur von kurzer Dauer.
„Ich konnte es nicht fassen, mir wurde der Boden unter den Füßen weggerissen.“
Robert Scholl
Schon ein Jahr später, 2017, kam der Krebs wieder. Dieses Mal lautete die Diagnose: Rektumkarzinom (Mastdarmkrebs). „Ich konnte es nicht fassen, mir wurde der Boden unter den Füßen weggerissen“, erinnert sich Robert Scholl. Er musste erneut operiert werden, dieses Mal entfernten die Ärzte seinen Schließmuskel und die letzten beiden Wirbel des Steißbeins. Er bekam ein sogenanntes Kolostoma – einen künstlichen Dickdarmausgang, der ihn sein Leben lang begleiten wird.
Univ.-Prof. Dr. med. Ulf Neumann, Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie an der Uniklinik RWTH Aachen, erklärt das Verfahren: „Beim Anlegen eines Kolostomas ziehen wir den Dickdarm aus der Bauchdecke heraus und nähen ihn an der Hautoberfläche an. Da der größte Teil des Dickdarms wie bei Herrn Scholl meistens erhalten bleibt, besteht die Funktion, den Stuhl einzudicken, weiterhin. Anders als der Schließmuskel hat das Stoma selbst keine Muskulatur, um die Stuhlentleerung zu regulieren. Darum müssen Stomaträger einen Stomabeutel verwenden, der den Stuhl auffängt.“
Offenheit und Vertrauen
Was all das für Robert Scholls Alltag bedeutet, weiß Petra Nick. Sie arbeitet seit 40 Jahren in der Uniklinik RWTH Aachen, 14 davon als Stomatherapeutin. Täglich versorgt sie zahlreiche Patienten, vom Frühchen bis zum Senior. Ihre Aufgabe ist es, Menschen wie Robert Scholl auf ihr Leben mit dem künstlichen Darm- oder Blasenausgang vorzubereiten: „Wir stellen verschiedene Stomasysteme vor und zeigen, wie die Versorgung angebracht und das Stoma gereinigt wird. Wer mag, darf zum Beratungsgespräch eine vertraute Person mitbringen, die genau zusieht und dem Patienten bei Bedarf helfen kann“, berichtet sie.
Was ist ein Stoma?
Das aus dem Griechischen stammende Wort „Stoma“ bedeutet unter anderem „Mund“ oder „Öffnung”. Damit werden Anlagen bezeichnet, bei denen Dickdarm (Kolostoma), Dünndarm (Ileostoma) oder eine Harnableitung (Urostoma) in die Bauchdecke eingenäht werden. Durch ein Stoma wird Stuhl oder Harn aus dem Körper herausbefördert und mit einem Beutelsystem aufgefangen. In Deutschland leben circa 160.000 Menschen mit einem Stoma.
Mit der Anlage eines Stomas sind viele Fragen verbunden. Alles, was vorher selbstverständlich war, muss nun neu durchdacht werden. Darf ich mich frei bewegen? Kann ich noch auf der Seite schlafen? Riecht der Beutel unangenehm? Was kann ich essen? Als erfahrene Stomatherapeutin hat Petra Nick darauf nicht nur eine Antwort – sie nimmt die Bedenken auch ernst. „Der psychologische Aspekt unserer Arbeit ist nicht zu unterschätzen“, weiß sie.
„Ich wünsche mir, dass ein Stoma kein gesellschaftliches Tabu mehr ist, es darf kein Stigma für die Betroffenen sein.“
Stomatherapeutin Petra Nick
Robert Scholl fühlt sich bei Petra Nick gut aufgehoben. „Dr. Google kann mit ihrer Beratung nicht mithalten. Anfangs habe ich ständig im Internet recherchiert, mittlerweile lasse ich das sein“, verrät er. Nur beim „BeuteltierNetzwerk e. V.“, eine digitale Community von Stomaträgerinnen und -trägern, schaut er zwischendurch mal online vorbei – der Austausch tut ihm gut. Die meisten Erfahrungen müsse man allerdings selbst machen, findet er, beispielsweise in puncto Ernährung. Aufgrund einer Lactose- und Fructoseintoleranz sind Milchprodukte und frisches Obst für ihn tabu, alle blähenden und fettigen Lebensmittel fallen ebenfalls weg.
„Man muss ein bisschen experimentieren und schauen, was gut funktioniert.“ Weizenbrötchen oder süßer Stuten mit Marmelade zum Beispiel. Manchmal packt Robert Scholl der Heißhunger, der sich allerdings mit Durchfällen rächt. Er schlägt daher nur selten über die Stränge, um den Darm nicht allzu sehr zu strapazieren. Auch das muss jeder Stomaträger für sich entscheiden. „Der Umgang mit der Krankheit“, berichtet Petra Nick, „ist von Patient zu Patient verschieden. Wir gehen individuell auf jeden einzelnen ein. Insgesamt würde ich mir wünschen, dass ein Stoma kein gesellschaftliches Tabu mehr ist, es darf kein Stigma für die Betroffenen sein. Mehr Informiertheit, Respekt und Akzeptanz seitens der Bevölkerung würde unseren Patienten ungemein helfen.“
» Lesetipp: Mehr über die Arbeit der Stomatherapeutinnen an der Uniklinik RWTH Aachen lesen Sie hier.
Lange Krankenodyssee
Das Schicksal meint es nicht gut mit Robert Scholl. 2018 bildete sich eine Hernie in der Nähe des Stomas, zudem hat die Bestrahlung seine Hüfte schwer geschädigt. Er kann nicht einmal mehr Rasenmähen, geschweige denn arbeiten. Mittlerweile ist er voll verrentet. An seine Zeit als Angestellter bei einer Textilfirma in Düren denkt er jedoch gerne zurück. „Mein Arbeitgeber hatte viel Verständnis für mich und ist mir bei den Schichtplänen sehr entgegengekommen. Irgendwann ging es dann körperlich leider nicht mehr“, bedauert Robert Scholl.
Im Herbst 2020 erhielt er die nächste Schocknachricht: Der Krebs hatte die Blase und die Prostata befallen, beide mussten entfernt werden, es kam zu Komplikationen: eine Lungenembolie und eine Blutvergiftung. Robert Scholl verabschiedete sich am Telefon von seiner Frau – er war nicht sicher, ob er nach der OP wieder aufwachen würde. Doch das Leben hat ihm eine Chance gegeben, er übersteht auch diesen Eingriff sowie die Anlage eines Urostomas. Und Petra Nick? Sie steht ihm als vertraute Ansprechpartnerin wieder mit Rat und Tat zur Seite.
Alltag zu Hause
Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus erhält Robert Scholl sein Material und weitere Anleitungen von einem Sanitätshaus. Die Kosten für die Beutel und die Reinigungsutensilien übernimmt die Krankenkasse. Wenn Fragen aufkommen, so hat er es sich vorgenommen, wird er sich wieder an Petra Nick wenden und die ambulante Stomasprechstunde aufsuchen. Den Weg von seiner Heimatstadt Düren in die Uniklinik RWTH Aachen nimmt er dafür gerne in Kauf. „Ich freue mich, Herrn Scholl weiter betreuen zu dürfen. Er hat wirklich viel mitgemacht. Wie er und seine Familie das alles verkraften, ist bewundernswert“, sagt Petra Nick anerkennend. Seine Familie, das sind seine Ehefrau und die beiden Töchter, 21 und 18 Jahre alt. Die drei sind für ihn alles, was zählt. „Sie unterstützen mich sehr und sind meine Motivation, weiterzuleben und mein Schicksal anzunehmen. Mein größter Wunsch ist, dass ich noch da bin, wenn meine Kinder heiraten und eine Familie gründen.“
apropos wünscht Robert Scholl von Herzen, dass sein Wunsch in Erfüllung geht, und bedankt sich sehr für die Offenheit und das Vertrauen.
Zertifiziertes Zentrum
Das Viszeralonkologische Zentrum an der Uniklinik RWTH Aachen ist ein von der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) zertifiziertes Zentrum. Es bietet einen in der StädteRegion Aachen einzigartigen Grad an Spezialisierung für die Therapie der jeweiligen Tumore. Das Zentrum beinhaltet die zertifizierten Organzentren im Centrum für Integrierte Onkologie – CIO Aachen (Krebszentrum).
- Darmzentrum
- Leberkarzinomzentrum
- Magenkrebszentrum
- Pankreaskrebszentrum
- Speiseröhrenkrebszentrum