Wenn Zwänge das Leben bestimmen

© stokkete – stock.adobe.com

Wir alle haben vermutlich schon einmal mehrfach nachgesehen, ob der Ofen ausgeschaltet oder die Tür abgeschlossen ist. In manchen Fällen nehmen solche Handlungen und Gedanken daran allerdings ein Ausmaß an, welche das alltägliche Leben stark beeinträchtigen, da Zwänge zur Krankheit werden können.

Gelegentlich auftretende Zwangsgedanken wie das wiederholte Erinnern eines Liedes, besser bekannt als „Ohrwurm“, oder Rituale wie das Kontrollieren der verschlossenen Tür beim Verlassen der Wohnung werden von vielen Menschen geschildert und sind ohne Krankheitswert. Aber stellen Sie sich vor, Sie wären in dem Gedanken gefangen, dass Ihre Hände ständig von unsichtbaren Keimen bedeckt sind. Diese Angst vor Verunreinigung verfolgt Sie den ganzen Tag und lässt Ihnen keine Ruhe. Sie wissen zwar, dass Ihre Hände sauber sind, doch das Gefühl, dass sich dort trotzdem Schmutz befindet, bleibt. Um diese Angst zu lindern, waschen Sie Ihre Hände immer und immer wieder. Meist verspüren Sie nur kurzfristige Erleichterung, bis der Kreislauf aus Gedanken, Angst und Handlung wieder von vorne beginnt.

Wunsch nach Kontrolle: Zwangsgedanken und Zwangshandlungen 

Zwangsstörungen, auch als Zwangserkrankungen oder Obsessive-compulsive disorders (kurz: OCD) bezeichnet, sind psychische Erkrankungen, die durch wiederkehrende Gedanken und/oder sich wiederholende Verhaltensweisen und -rituale gekennzeichnet sind. Sie lassen sich in Zwangsstörungen, bei denen die Gedanken im Vordergrund stehen, und solche, bei denen die zwanghaften Handlungen den Schwerpunkt bilden, unterscheiden. Oft treten Zwangsgedanken- und -handlungen gemeinsam auf. „Die unerwünschten Gedanken, Bilder, Impulse und Vorstellungen drängen sich dabei den Betroffenen auf, werden als störend und unangenehm empfunden, können die unterschiedlichsten Ausprägungen annehmen und lösen oft Angst, Unruhe oder Unbehagen aus“, erklärt Dr. med. Sascha Weber, Oberarzt in der Privatambulanz und Tagesklinik der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Uniklinik RWTH Aachen und ergänzt: „Typische Zwangsgedanken beschäftigen sich beispielsweise mit der Angst vor Keimen, Krankheiten, Verunreinigungen oder Unfällen, der Befürchtung, etwas Wichtiges vergessen zu haben oder dem Impuls, anderen Personen zu schaden. Sexuelle Zwangsgedanken gehen ebenfalls mit intensiven Ängsten einher, da die Gedanken häufig im kompletten Gegensatz zu eigentlichen Werten und sexueller Orientierung stehen können. Für die Betroffenen sind diese Art von Gedanken eine besonders belastende Form von Zwangsgedanken. Auch wenn die Betroffenen in den meisten Fällen erkennen, dass diese Gedanken weder angenehm noch nützlich sind, können sie sie dennoch nicht einfach abstellen.“ Um den Ängsten, die durch diese Zwangsgedanken entstehen, zu entkommen und das eigene Gedankenkarussell zu beruhigen, entwickeln viele Menschen Zwangshandlungen, die die innere Anspannung abmildern oder ein befürchtetes Ereignis verhindern sollen. Diese Rituale können beispielsweise häufiges Händewaschen oder mehrmaliges Kontrollieren von Türen, Fenstern oder Geräten sowie das ständige Wiederholen bestimmter Tätigkeiten, Wörter oder Sätze umfassen. „Obwohl das ritualisierte Gegensteuern mit zwanghaften Handlungen die Ängste und Anspannungen kurzfristig reduzieren kann, verstärkt es langfristig die Zwangsstörung, da es die Personen in einem endlosen Kreislauf gefangen hält. Darüber hinaus können die Handlungen sehr zeitaufwendig sein, den Alltag dominieren und die Betroffenen stark beeinträchtigen“, führt der Experte aus.

Wie entstehen Zwangsstörungen?

Menschen, die an einer Zwangsstörung leiden, erleben den sich ständig wiederkehrenden Drang, an bestimmte Dinge zu denken oder Handlungen immer wieder auszuführen. Die Ursachen dafür können vielfältig sein. Neben bestimmten neurobiologischen Faktoren wie einer bestimmten Genstruktur, sind Lernerfahrungen für die Entstehung einer Zwangsstörung verantwortlich. Dabei geht es vor allem um die eingeschränkte Fähigkeit Betroffener, mit unangenehmen Emotionen wie Aggression und Angst umzugehen. Ebenso können belastende Lebensereignisse, dauerhafter existenzieller Stress oder Traumata begünstigend für Zwangserkrankungen sein. Auch Eigenschaften wie eine ausgeprägte Ängstlichkeit, ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle oder ein hohes Maß an Perfektionismus können das Verhalten begünstigen, aufrechterhalten oder verstärken. Da Zwangsstörungen zusammen mit anderen Erkrankungen oder Problemen auftreten können, die sich dann unter Umständen gegenseitig beeinflussen oder verstärken, sollten Menschen, die über einen längeren Zeitraum immer wieder von bestimmten Gedanken oder Handlungen eingeholt werden und diese vergeblich versuchen loszuwerden, zeitnah eine Hausarztpraxis oder psychotherapeutische Beratung aufsuchen. „Viele Zwangserkrankte schämen sich für ihre Gedanken oder Handlungen und versuchen, ihre Impulse zu unterdrücken oder zu verheimlichen. Das kann äußerst anstrengend und erschöpfend sein und die Gedanken und Handlungen verstärken. Scheuen Sie sich nicht davor, frühzeitig ärztlichen Rat einzuholen“, betont Dr. Weber. Für Deutschland wird eine 1-Jahres-Prävalenz von drei bis vier Personen pro 100 Einwohnern angenommen (3,6 Prozent 1-Jahres-Prävalenz), die beschreibt, wie viele Menschen innerhalb von 12 Monaten von Zwangserkrankungen betroffen waren.

Raus aus den Zwängen

Mit einem individuellen Behandlungsplan lassen sich die Symptome so weit abmildern, dass in den meisten Fällen wieder ein weitgehend normales Leben möglich ist. „Eine Zwangsstörung lässt sich mit professioneller Unterstützung gut behandeln. In der klinischen Praxis erreichen durch die multimodale Verhaltenstherapie sechs bis acht von zehn Personen mit Zwangsstörungen eine deutliche Besserung ihrer Beschwerden. Die am häufigsten empfohlene Form der Therapie ist die Verhaltenstherapie. Sie hat zum Ziel, sich angstauslösenden Reizen oder Alltagssituationen zu stellen, ohne auf das bisherige Zwangsverhalten zurückzugreifen. Durch die Erfahrung, dass die innere Anspannung auch ohne Zwangsritual nachlässt, Befürchtungen nicht eintreten und die Angst auch auf diese Weise bewältigt werden kann, lassen sich solche Gedanken und Handlungsimpulse hinterfragen und neu bewerten. Eine medikamentöse Therapie sollte nur dann eingesetzt werden, wenn die Symptome schwer ausgeprägt sind und eine Psychotherapie alleine nicht ausreichen“, so der Oberarzt. Ergänzend können Entspannungstechniken wie Yoga, Autogenes Training oder Atemübungen dabei helfen, die mit Symptomen der Zwangsstörung verbundenen unangenehmen Gefühle zu lindern. Zudem ist es möglich, enge Bezugspersonen in die Therapie einzubinden. „Dadurch kann es Erkrankten leichter fallen, sich den Ängsten und Zwängen zu stellen – ein wichtiger Faktor, um den erreichten Erfolg langfristig zu erhalten. Gemeinsam erlernen und erarbeiten wir neue Verhaltensweisen und Strategien, um einem normalen Alltag nachzugehen“, so der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.

Infokasten 1:

Um die Diagnose einer Zwangsstörung zu stellen, müssen die Zwänge seit mindestens zwei Wochen bestehen, an den meisten Tagen auftreten und zu einem starken Leidensdruck führen.

Infokasten 2:

Kontakt:

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Terminvereinbarung Psychiatrische Poliklinik:
Tel.: 0241 80-89638
E-Mail: ps-ambulanzen@ukaachen.de

Abo Abo
Newsletter Newsletter
stiftung Stiftung
AC Forscht Aachen forscht

Archiv