Wir alle haben ein bestimmtes Bild von uns im Kopf, wie wir gerne wären und wie wir sind. Dabei neigen wir dazu, ein geschöntes Selbstbild von uns zu zeichnen. Wer gesteht sich schon gerne die eigenen Unzulänglichkeiten ein? Einen Blick ins Handy des Partners geworfen – ich doch nicht! Beim Yogakurs laut gepupst – das war der neben mir! Manche Handlungen, Gefühle oder Gedanken möchten wir lieber verbergen – und kommen sie ans Licht, schämen wir uns dafür.
Keine falsche Scham beim Arzt
Der Alltag ist voll von Situationen, in denen wir Scham empfinden – der eine mehr, der andere weniger. Scham ist ein starkes und unangenehmes Gefühl, das jeder Mensch kennt. Sich zu schämen, ist in Ordnung und völlig normal. Problematisch wird es allerdings, wenn es um die eigene Gesundheit geht. Die paar Kilos zu viel – noch lange kein Übergewicht! Die anhaltende Antriebslosigkeit – weit entfernt von einer Depression! Von Problemen im Genitalbereich möchte erst recht niemand etwas wissen. Wenn es um heikle Körperthemen geht, zögern viele Menschen gern vor dem Arztbesuch. Denn im Sprechzimmer müssen wir Einblicke in unsere persönliche Intimität geben. Wir werden an Stellen untersucht, die wir vielleicht lieber nicht zeigen wollen, sollen über schambesetzte Themen sprechen. Wir haben vielleicht sogar Angst vor der Diagnose, vor der Wahrheit, vor dem „Machen Sie sich bitte frei“.
In vielen Lebensbereichen fällt Scham nicht weiter ins Gewicht. In der Öffentlichkeit zu pupsen, mag den meisten Menschen zwar peinlich sein – schaden tut es allerdings niemandem. Im Sprechzimmer sieht das anders aus. Hier ist Scham gesundheitlich kontraproduktiv. „Wer Hilfe erhalten möchte, muss beim Arztgespräch offen und ehrlich sein und darf nichts schönreden“, sagt Prof. Dr. med. Nicole Kuth, Leiterin des Lehrgebiets Allgemeinmedizin an der Uniklinik RWTH Aachen. Alles andere erschwert eine richtige und schnelle Diagnosestellung. Die Allgemeinmedizinerin kennt solche Fälle aus ihrer eigenen Praxis – und warnt: „Je länger einige Krankheiten unentdeckt bleiben, desto problematischer werden sie. Sie können chronisch werden, Spätfolgen verursachen oder gar weitere Menschen gefährden, zum Beispiel wenn es sich um eine Infektionserkrankung handelt, die man weitertragen kann.“ Auch von einer Selbstmedikation sollten besser die Finger gelassen werden. Insbesondere bei bestehenden Vorerkrankungen könnte es zu Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten kommen, die das Krankheitsbild verschlechtern.
Warum werden wir rot vor Scham?
Die Schamesröte ist eine natürliche (Stress-)Reaktion des Körpers. Wenn wir ein Gefühl der Scham entwickeln, werden über das vegetative Nervensystem Signale an den Körper gesendet, welche die Atmung, den Herzschlag oder auch die Durchblutung beeinflussen. Das geschieht ohne Nachdenken und ohne willentliche Entscheidung. Ist uns etwas peinlich, werden insbesondere die feinen Adern der Gesichtshaut stärker durchblutet. Wie stark jemand dabei errötet, hängt von persönlichen körperlichen Faktoren und der eigenen Reizschwelle ab.
Scham entsteht im Kopf
Fakt ist: Scham ist reine Kopfsache und eine höchst subjektive Empfindung. Was mir selber peinlich ist, hat der Arzt vielleicht schon hundertmal gesehen – und hundertmal erfolgreich behandelt. „Scham zu empfinden, ist grundsätzlich in Ordnung“, meint Prof. Kuth. Wichtig ist: „Sie soll aber realistisch empfunden werden.“ Die für viele sehr schambesetzten Infektionskrankheiten zum Beispiel sind objektiv betrachtet kein Grund, sich zu schämen. Es sind Infektionen, das heißt sie werden übertragen und sind nicht hausgemacht. Das kann also jedem passieren.
Die eigene Scham darf einem nicht im Wege stehen, sodass man persönlich darunter leidet – sowohl körperlich als auch psychisch. Wer das Gefühl hat, zu viel Scham zu empfinden und damit nicht mehr umgehen kann, sollte sich Hilfe suchen. Denn Scham ist eine Stressreaktion des Körpers, die auf Dauer und im Übermaß krank macht und einen schneller altern lässt. Und das sind die Peinlichkeiten des Alltags doch nun wirklich nicht wert, oder?