Mal pikst es hier, mal sticht es da: Fast jede oder jeder von uns hat im Alltag schon einmal unklare körperliche Symptome erlebt. Sie können unangenehm sein, verschwinden aber meist nach kurzer Zeit wieder. Erst wenn die Beschwerden ohne klare Diagnose über einen längeren Zeitraum anhalten und den Alltag erheblich beeinträchtigen, ist die Rede von funktionellen Körperbeschwerden oder somatoformen Störungen. apropos klärt auf.
Wenn Patientinnen und Patienten wiederholte oder dauerhaft auftretende körperliche Beschwerden aufweisen, die sich trotz intensiver Diagnostik nicht durch organische Ursachen erklären lassen, spricht man von somatoformen Störungen. Eine ausbleibende Diagnose kann sowohl für Betroffene als auch das Umfeld sehr frustrierend sein. „Somatoforme Störungen spiegeln die komplexe wechselseitige Beziehung zwischen Körper und Seele wider und zeigen, wie stark psychische und körperliche Gesundheit miteinander verflochten sind. Der Sammelbegriff beschreibt eine Gruppe von verschiedenen psychischen Erkrankungen, deren wesentliches Merkmal unklare körperliche Beschwerden sind“, erklärt Dr. Yvonne Chikere, Oberärztin in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Uniklinik RWTH Aachen.
Symptome und Diagnose
Somatoforme Störungen lassen sich in verschiedene Formen einteilen. Wenn Betroffene über wenigstens zwei Jahre hinweg unter unklaren, wiederholt auftretenden und häufig wechselnden körperlichen Symptomen leiden, handelt es sich um eine sogenannte Somatisierungsstörung. Bei der somatoformen Schmerzstörung hingegen bestehen starke und oftmals anhaltende quälende Schmerzen in einer bestimmten Körperregion, die durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden können. Betroffene mit einer hypochondrischen Störung beschäftigen sich beharrlich mit der Möglichkeit, an einer oder mehreren körperlichen Erkrankungen zu leiden. Bestimmte körperliche Phänomene werden überinterpretiert und als Anzeichen der jeweiligen Krankheit gedeutet. Zu den häufigsten funktionellen Körperbeschwerden gehören chronische Schmerzen, Herzklopfen, Atemnot, Magen-Darm-Beschwerden oder neurologische Auffälligkeiten wie Schwindel oder Taubheitsgefühle. Die Diagnose somatoformer Störungen erfordert eine umfassende Anamnese, bei der es wichtig ist, sowohl organische als auch psychosoziale Faktoren zu berücksichtigen. Häufig ist dies ein langer Prozess, da zunächst viele körperliche Untersuchungen anstehen, die dabei helfen, organische Befunde auszuschließen. Nicht selten fühlen sich Patientinnen und Patienten missverstanden, wenn ihre Beschwerden vorschnell als psychisch bedingt abgestempelt werden. „Viele Betroffene haben auf der Suche nach einer Diagnose eine jahrelange Ärzte-Odyssee hinter sich und das Vertrauen in das ärztliche Personal verloren. Oft fühlen sie sich unverstanden und alleingelassen. Dabei bilden sie sich ihre Beschwerden keineswegs ein. Sie erleben und fühlen körperlich und geistig belastende Symptome, die ihre Lebensqualität stark beeinträchtigen können“, erläutert die Oberärztin.
Somatoforme Störungen verstehen lernen
Bei der Entstehung einer somatoformen Störung wird – wie auch bei anderen psychischen Erkrankungen – das Zusammenwirken verschiedener Faktoren als ursächlich angesehen. Dabei spielt, neben prädisponierenden biologischen Faktoren (unter anderem Vererbung), die individuelle Lebensgeschichte eine wichtige Rolle. Bei vielen Patientinnen oder Patienten findet sich eine Häufung belastender Kindheitsereignisse bis hin zu Gewalterfahrungen. Als auslösende Faktoren lassen sich im Vorfeld der Manifestation des Krankheitsbildes oft kritische Lebensereignisse, wie Verlust, Trennung, körperliche Erkrankungen oder chronische Konflikte eruieren. „Bei somatoformen Störungen werden normale Prozesse im Körper durch Fehlinterpretation als bedrohlich wahrgenommen und als Anzeichen einer körperlichen Erkrankung gesehen. Die Folge: Je stärker die Person ihre Aufmerksamkeit auf die Beschwerden lenkt, desto extremer werden sie“, erklärt Dr. Chikere. Betroffene, die unter andauernden gesundheitlichen Einschränkungen leiden, sollten zunächst die Hausarztpraxis aufsuchen. Liegt keine körperliche Erkrankung vor, ist ein Gespräch bei einer Fachärztin oder einem Facharzt für Psychosomatische Medizin oder Psychiatrie sinnvoll. Gemeinsam lässt sich abklären, ob die Leiden vielleicht auch auf eine andere psychische Erkrankung hindeuten, da Depressionen oder Angststörungen ebenfalls mit körperlichen Symptomen einhergehen können.
Zusammenspiel von Körper und Seele
Die psychosomatische Behandlung von somatoformen Störungen erfordert einen patientenzentrierten Ansatz, um die spezifischen Symptome zu lindern und den Betroffenen zu helfen, ihre Beschwerden besser einzuordnen und im Alltag aktiv zu managen. „Die kognitive Verhaltenstherapie ist dabei eine sehr wirksame Therapiemethode. Sie hilft, den Zusammenhang zwischen den Gedanken, Gefühlen und körperlichen Symptomen zu verstehen und mit dem eigenen Körper und negativen Denkmustern anders umzugehen. Bei Vorliegen psychiatrischer Begleiterkrankungen, wie beispielweise Depressionen, kann auch eine medikamentöse Behandlung sinnvoll sein. Sie hilft zum Beispiel dabei, die Stimmung zu stabilisieren oder Schlafstörungen zu lindern“, führt die Expertin aus und ergänzt: „Gemeinsam überlegen wir, welche Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität erforderlich sind und wie Beeinträchtigungen im persönlichen und sozialen Bereich verringert werden können. Zudem zeigen wir Wege auf, die eigene Selbstfürsorge zu stärken, sodass Betroffene den Anforderungen des Alltags aktiv entgegentreten können. Entspannungsverfahren wie Atemübungen oder progressive Muskelrelaxation, sowie Sport und Bewegungstherapie können ebenfalls dazu beitragen, Stress zu reduzieren und die Einordnung körperlicher Symptome zu verbessern.“
Infokasten 1:
Kontakt:
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Terminvereinbarung Psychiatrische Poliklinik:
Tel.: 0241 80-89638
E-Mail: ps-ambulanzen@ukaachen.de
Infokasten 2:
Alle psychischen Störungen werden im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) der American Psychiatric Association (APA) und in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (International Classification of Diseases) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschrieben und klassifiziert.