Ein Unglück wird zu einer Katastrophe, wenn es außergewöhnlich viele Verletzte und Tote zu beklagen gibt. In der Katastrophenmedizin arbeiten dann viele unterschiedliche Disziplinen zusammen. Notfallmediziner natürlich, zusätzlich meist Chirurgen, aber auch Disziplinen wie die Innere Medizin, Infektiologie, Anästhesie, Pädiatrie und auch die Gynäkologie. Gerade bei Seuchen und Pandemien spielen Infektiologen eine
große Rolle. Bei schweren Unglücken kommen vermehrt Notfallmediziner zum Einsatz. In den Flüchtlingslagern weltweit sind es gerade Frauen und Kinder, die am meisten leiden und fachärztliche Hilfe von Internisten, Kinderärzten oder Gynäkologen brauchen.
Besondere Herausforderungen
In Deutschland – mit seinem sehr guten medizinischen System – erfolgt bei einem Massenanfall von bis zu 50 bis 100 Verletzten immer die Behandlung nach Individualverletztenstandards. Das heißt, dass zum Beispiel ein Patient mit einem akuten
Herzinfarkt den Einsatz eines Rettungsfahrzeuges samt Arzt erfordert – auch wenn es 30 weitere Verletzte gibt. Erst im Katastrophenfall darf der Transport eines so Schwerkranken
mit verfügbaren Rettungsmitteln jeglicher Art durchgeführt werden. Das stellt auch das deutsche Gesundheitssystem vor Herausforderungen und erfordert eine Menge sehr gut
ausgebildeter Rettungskräfte aller Art.
Damit auch im Falle eines Großeinsatzes die Handgriffe der Retter sitzen, werden diese Ereignisse fortlaufend trainiert. Das gilt für Planung und Organisation, die viel Know-how erfordern, aber auch für die Durchführung und die im Bedarfsfall notwendige
Improvisation. Notfallpläne gibt es für viele Unglücksvarianten – doch was auf dem Papier gut durchdacht klingt, stößt in der Realität teilweise an Grenzen. So sind Übungen und
Trainings ein wichtiges Tool, um im Ernstfall routiniert agieren zu können. Auch an der Uniklinik RWTH Aachen werden solche großen Einsätze daher regelmäßig mit Ärztinnen, Ärzten und dem Pflegepersonal, aber auch mit der Feuerwehr und den Hilfsorganisationen
DRK, Maltesern und Johannitern geübt. Es gibt Trainings spezieller „Lagen“, also Szenarien,
die beispielsweise ein Zugunglück, einen Anschlag oder ein chemisches Unglück simulieren. Schauspieler mimen die Verletzten, vom Einsatzleiter bis zum Helfer muss jeder seine Rolle
so realistisch wie möglich durchspielen. Hier trainieren die Mediziner das eigene Verhalten, spezielle Abläufe und besondere Vorgehensweisen, wie beispielsweise die Triage.
Katastrophen werden auch in Europa immer häufiger. Gut, wenn man vorbereitet ist.
Ein anderes Beispiel ist die mobile Dekontaminationsstraße, über die die Uniklinik als eine der sehr wenigen Kliniken in Deutschland verfügt, und deren Einsatz jährlich gemeinsam mit der Werkfeuerwehr geprobt wird. Das 6 mal 24 Meter große Zelt teilt sich in zwei Reinigungsbereiche, in denen Betroffene quasi am Fließband dekontaminiert, also gereinigt
werden können, um anschließend in der Klinik behandelt zu werden, ohne andere Menschen zu gefährden.
Die kritische Infrastruktur
„Krankenhäuser gelten als Bestandteil der sogenannten kritischen Infrastruktur, bei denen jede Störung wichtiger Abläufe unmittelbare Auswirkungen auf Menschenleben haben kann“, erläutert Priv.-Doz. Dr. med. Jörg Christian Brokmann, Leiter der Zentralen Notaufnahme. „Auch die Uniklinik RWTH Aachen muss auf größere Mengen von verletzten oder erkrankten Patienten bei chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Gefahrenlagen, kurz CBRN, vorbereitet sein.“ Das kann beispielsweise ein saurer Niederschlag nach einem Brand sein, ein Verkehrsunfall mit einem Gefahrguttransporter oder ein Unfall mit Gefahrstoffen in einer Firma oder anderen Institutionen.
Durch Winde und Niederschlag können schnell größere Menschenmengen betroffen und kontaminiert sein. Um diese in der Uniklinik behandeln zu können, müssen sie erst dekontaminiert werden. Vor allem Kleidung, Haut und Haare gilt es zu säubern – durch die Entkleidung und das Abduschen des Körpers mit Wasser. „Glücklicherweise sind CBRN-Gefahren äußerst seltene Ereignisse, aber gerade deshalb müssen sie trainiert werden, damit es im Ernstfall funktioniert“, sagt Dr. Brokmann.
Bereit für den Ernstfall
Wie sehr das Gefühl trügt, dass man sich in Deutschland und ganz Europa vor großen Katastrophen in Sicherheit wägen kann, haben der Ausbruch der Corona-Pandemie und die verheerenden Überschwemmungen in unserer Region im Juli 2021 gezeigt. Auch
wenn Europa das große Glück hat, in den letzten Jahrzehnten von Kriegen verschont geblieben zu sein, nehmen die Katastrophen zu. Weltweit und auch hier bei uns. Der Klimawandel bringt zerstörerische Naturgewalten vor die eigene Haustür, zudem bedrohen
uns unsichere Atomkraftwerke oder moderne Industrieanlagen und Transportmittel, die ein großes Potenzial für Katastrophen in sich bergen. Wahrhaben will das im Alltag kaum
jemand. Gut also, dass Medizinerinnen und Mediziner und alle beteiligten Helfer den Ernstfall im Blick halten und sich kontinuierlich darauf vorbereiten.