Wer einmal ein Neugeborenes in den Armen gehalten hat, weiß, wie klein und zart es ist. Noch viel zierlicher und schutzbedürftiger sind die Kleinsten der Kleinen, die Frühgeborenen. Im Perinatalzentrum der Uniklinik RWTH Aachen gilt für die Winzlinge die höchste Versorgungsstufe, 60 Prozent der hier betreuten Kinder wiegen weniger als 1.500 Gramm. Univ.-Prof. Dr. Thorsten Orlikowsky, Leiter der Sektion Neonatologie an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin und stellvertretender Sprecher des Perinatalzentrums Aachen, gibt im Interview mit apropos einen sehr persönlichen Einblick in seinen Berufsalltag.
Ein winziges Menschlein, das weniger als ein Kilogramm wiegt – hat man da nicht Berührungsängste?
Prof. Orlikowsky: Anfangs hatte ich auch Berührungsängste, klar. Das gibt sich aber mit der Zeit. Zum einen bringt das die langjährige Erfahrung mit sich, ich arbeite nun schon seit 26 Jahren in diesem Bereich. Zum anderen darf man diese kleinen Menschen nicht unterschätzen. In der Regel sind ihre Organe voll funktionsfähig, wenn auch noch unreif. Die Kinder können schon riechen, sie reagieren sehr individuell auf Berührungen und auf ihre Umwelt, und entwickeln ihren eigenen Rhythmus. Es sind Persönlichkeiten, jedes Frühgeborene ist anders.
Wer sind Ihre kleinen Patienten?
Prof. Orlikowsky: Viele Kinder, die wir betreuen, werden in der 24. und 25. Schwangerschaftswoche geboren, die Kinder wiegen unter 1.500 Gramm. Die kleinsten Kinder, die hier zur Welt kommen, wiegen nur rund 350 Gramm. Diese Kinder haben dank der großen Fortschritte in der Neonatologie nicht nur eine reelle Überlebenschance, sondern auch die Möglichkeit einer guten Lebensqualität. Etwa ein Drittel der extrem kleinen Frühchen zeigt später jedoch kleinere und größere Entwicklungsstörungen. Unser Ziel ist es, diese früh festzustellen und zu behandeln. Die Neonatologie betreut aber auch ältere Frühgeborene, Neuge-borene mit Fehlbildungen am Herzen und an den inneren Organen. Und wir sind für die Vorsorgeuntersuchungen aller gesunden Neugeborenen zuständig.
Was wird getan, um die Frühchen so wenig wie möglich zu strapazieren? Gibt es bestimmte Verfahren?
Prof. Orlikowsky: Ja, wir setzen auf das sogenannte Optimal Handling. Das heißt, dass wir unsere Tätigkeiten an den Kindern auf ein notwendiges Minimum konzentrieren und die Aktionen am Kind zwischen den einzelnen pflegerischen und ärztlichen Berufsgruppen behutsam koordinieren, um die Babys vor Stress zu bewahren. Beispielsweise untersuchen unsere Ärztinnen und Ärzte die Kleinen dann, wenn sie gewickelt werden.
Sicher kommt es vor, dass eine Behandlung nicht so verläuft wie gewünscht oder dass ein Kind gar verstirbt. Lernt man mit der Zeit, Berufliches und Privates zu trennen?
Prof. Orlikowsky: Nein, voneinander trennen kann man das nicht. Man kann auch Vieles nicht vergessen. Und je länger man im Beruf ist und je mehr man an Wissen und Erfahrung gesammelt hat, desto schwieriger wird es. Es gibt einige Kinder, an die ich mich, mit Bildern vor meinen Augen, immer wieder erinnern werde. Das sind häufig die Kinder, bei denen es nicht so gut ausgegangen ist, aber auch solche, wo man selbst als erfahrener Mediziner immer wieder ins Staunen kommt. Uns allen hier hilft die Arbeit im Team sehr. Wichtig ist immer, darüber zu sprech-en. Was war die Ursache? Hätten wir etwas vorhersehen können? Waren unsere Maßnahmen angepasst? Das sind die Fragen, die wir uns dann stellen. Außerdem finden regelmäßig Teamsitzungen statt, in denen wir uns über die rein medizinischen Fragestellungen hinaus auch mit ethischen Fragen auseinandersetzen: Wie viel ist zu viel für ein kleines Kind? Im Zentrum des Handelns steht immer das Kind, das mit einer Verbindung aus High-Tech- und High-Care-Medizin behandelt wird.
Jedes Frühchen hat Eltern, was ist mit denen?
Prof. Orlikowsky: Wir beziehen die Eltern so früh wie möglich ein. Das fängt schon auf der Intensivstation an. So kann es völlig normal sein, dass die Mutter oder der Vater unter Anleitung bereits dem 700 Gramm schweren Frühgeborenen die Windeln wickelt. Auch eine psychologische Betreuung der Eltern ist dank unserer Klinik für Psychiatrie und unserer Klinikseelsorge gewährleistet; das ist der Vorteil eines Hauses, in dem alle Fachdisziplinen unter einem Dach sind. Ich nenne es immer das „Haus der 1000 Möglichkeiten“.
Wie geht es nach der Entlassung für die Familien weiter?
Prof. Orlikowsky: Wichtig ist, dass diese Kinder, um die wir vielleicht wochenlang gekämpft und uns jedes Behandlungsdetail genauestens überlegt haben, nach dem Krankenhausaufenthalt nicht in ein Loch fallen, sondern von den Eltern und einem ausgeklügelten Netzwerk aufgefangen werden. Auch die Eltern von Früh-geborenen brauchen oft Hilfe. Man weiß heute, dass 76 Prozent der Mütter von Frühchen durch die Erlebnisse traumatisiert sind.
Kriegen Sie mit, was später aus den Kindern wird?
Prof. Orlikowsky: Wir arbeiten im Haus mit zahlreichen medizinischen Fächern wie Pränataldiagnostik, Augenheilkunde, Pädaudiologie, Humanenetik, Orthopädie, Neuro-, Abdominal- und Herzchirurgie zusammen, um eine individuelle Therapie zu ermöglichen. Zudem kooperieren wir seit langem erfolgreich mit unseren niedergelassenen Kinderarztkolleginnen und -kollegen und verschiedenen Vereinen zusammen. Außerdem sehen wir alle Frühgeborenen unter der 32. Schwangerschaftswoche nach drei und nach zwölf Monaten in unserer Neo-Ambulanz wieder, um ein direktes Feedback zum Verlauf zu bekommen und weitere Hilfestellungen anbieten zu können.
Woraus schöpfen Sie die Kraft, auch nach schwierigen Situationen weiterzumachen?
Prof. Orlikowsky: Es gibt ja auch viele schöne Erlebnisse. Beispielsweise findet jedes Jahr im November der Weltfrühchentag statt. An diesem Tag kommen ehemalige Frühgeborene und Wegbegleiter zu uns. Es ist immer schön zu sehen, wenn sich ein Kind, das einen schwierigen Start ins Leben hatte, normal entwickelt und durch den Raum hüpft, als wäre nie etwas gewesen. Das baut auf.
Man merkt, dass Sie mit dem Herzen bei der Sache sind. Wieso haben Sie sich entschieden, beruflich diesen Weg einzuschlagen?
Prof. Orlikowsky: Ich sehe das Leben als einen Weg mit einer Tür, die ins Leben hineinführt und einer, die aus dem Leben herausführt. Das Privileg eines Neonatologen ist es, an der ersten Tür zu arbeiten. Der Vorteil ist also, dass ich – im Gegensatz zu vielen anderen Ärzten – nicht so viel an der letzten Tür zu tun habe. Wenn alles gut läuft, hat ein Kind noch das ganze Leben vor sich, da ist viel Potenzial vorhanden. Diese Aufgabe ist sehr verantwortungsvoll, aber auch abwechslungsreich.
Sie sind auch in Lehre und Forschung tätig. Wie beurteilen Sie die Entwicklungen in der Forschung?
Prof. Orlikowsky: Die Forschung nimmt einen hohen Stellenwert in unserem Berufsalltag ein. Ich halte es für extrem wichtig, Wissen ständig durch kontrollierbare Studien zu hinterfragen und zu schauen, ob Medikamente die gewünschte Wirkung entfalten. Beispielsweise konnte festgestellt werden, dass Kinder mit einem unreifen Atemzentrum Koffein bekommen sollten, und zwar pro Dosis so viel, wie in sechs Tassen Kaffee enthalten ist. Aus neurologischer Sicht sind diese Kinder besser dran als solche, die kein Koffein bekommen. Auf den ersten Blick würde man das nicht vermuten, darum sind großangelegte Studien von hoher Bedeutung.
Sie haben noch einige Jahre in Ihrem Beruf vor sich. Wie sehen Ihre Ziele aus?
Prof. Orlikowsky: Mein Ziel ist es, dass einmal jede Familie mit ihrem Kind in einem eigenen Frühgeborenen-Zimmer wohnen kann, ohne Lärm, mit möglichst wenig Kabeln, aber einer sehr hohen Sicherheit. Diese Elternnähe und ein gewisses Maß an Normalität würden optimale Bedingungen für einen guten Start ins Leben schaffen.