Bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, denken viele Menschen zunächst an Kinder – den „Zappelphilipp“, der nicht ruhig sitzen kann, das Energiebündel, das ständig den Schulunterricht stört oder die hibbelige Träumerin in der letzten Reihe. Doch ADHS ist keine reine Kinderkrankheit, auch Erwachsene sind von der Störung betroffen – manchmal, ohne es zu wissen. Im Interview erklärt Prof. Michael Grözinger, warum eine späte Diagnose hilfreich sein kann.
Was genau ist eine ADHS?
Prof. Grözinger: ADHS ist eine psychische Erkrankung, die als Neuroentwicklungsstörung eingeordnet wird. Typische Auffälligkeiten sind eine motorische Unruhe sowie eine reduzierte Aufmerksamkeit und eine gestörte Impulskontrolle. Auch wenn ADHS vor allem als Kinderkrankheit angesehen wird und häufig in diesem Alter auftritt, kann es sein, dass sie erst im Jugend- oder Erwachsenenalter diagnostiziert wird. Es sind aber auch viele Erwachsene davon betroffen, manchmal ohne es zu wissen.
Wie äußert sich eine ADHS bei Erwachsenen, gibt es typische Symptome?
Prof. Grözinger. Viele Erwachsene mit ADHS haben Schwierigkeiten, ihren Alltag zu organisieren, sich auf Aufgaben zu konzentrieren oder Deadlines und Termine einzuhalten. Sie verlieren oft den Überblick über die Zeit und kämpfen damit, alltäglichen Verpflichtungen nachzukommen. Betroffene können sich in Details verlieren und vergessen dabei das große Ganze, was zu privaten oder beruflichen Problemen führen kann. Zudem neigen an ADHS-Erkrankte häufig zu impulsiven Handlungen oder Entscheidungen. Sie sind in vielen Alltagssituationen ungeduldig, schnell gereizt oder haben das ständige Bedürfnis nach Veränderung. Nicht selten kommt es auch zu Problemen im zwischenmenschlichen Bereich. Sie haben Schwierigkeiten, intensive Emotionen zu kontrollieren und Gefühle in einem gesunden Gleichgewicht zu halten. Kleinere Rückschläge können unter Umständen unverhältnismäßig starke Emotionen auslösen.
Wie lässt sich ADHS bei Kindern von ADHS bei Erwachsenen unterscheiden?
Prof. Grözinger: Auch im Erwachsenenalter zählen Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsdefizit und Impulsivität zu den ADHS-Kernsymptomen. Meist werden die Anzeichen mit zunehmendem Alter allerdings subtiler. Vor allem die Hyperaktivität, die sich bei Kindern meist durch körperliche Unruhe äußert, wird bei Erwachsenen oft schwächer und unauffälliger. Sie zeigt sich stattdessen häufig in Form von innerer Anspannung, Nervosität oder dem Gefühl, ständig „auf dem Sprung“ zu sein. Betroffenen fällt es schwer, sich zu entspannen und abzuschalten, ihre Gedanken sind immer in Bewegung. In manchen Fällen kann diese innere Unruhe durch wiederholtes Trommeln mit den Fingern oder Wippen mit den Beinen nach außen getragen werden.
Wie wird ADHS bei Erwachsenen diagnostiziert und behandelt?
Prof. Grözinger: ADHS ist nicht heilbar, aber gut behandelbar. Da sich die Symptome mit anderen psychischen Störungen wie Depressionen, Angsterkrankungen, Suchterkrankungen oder bipolaren Störungen überlappen, ist eine sorgfältige Diagnose besonders wichtig. Ausführliche Gespräche, Tests und Fragebögen helfen dabei, die Symptome einzuordnen und zu bewerten. So lässt sich erkennen, wenn es sich um eine andere Erkrankung handelt oder eine solche begleitend vorhanden ist. Die Behandlung von ADHS umfasst mehrere Therapieansätze. Aufklärung und Beratung werden als erste Maßnahmen eingesetzt. Dabei ist die Einbeziehung enger Bezugspersonen meistens sinnvoll. Eine medikamentöse Behandlung wird abhängig von der Schwere der Erkrankung und der Präferenz des Patienten angewendet, ist aber bei ADHS besonders wirksam. Eine verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie kann helfen, negative Denkmuster zu erkennen und zu verändern, Bewältigungsstrategien für den Alltag zu entwickeln und sich bessere organisatorische Fähigkeiten anzueignen. Daneben können Selbsthilfegruppen, Achtsamkeitsübungen oder Sport manchen Menschen helfen, den Alltag besser zu bewältigen.
ADHS bedeutet ein Leben mit einer unsichtbaren Herausforderung. Welche positiven Seiten kann die Störung haben?
Prof. Grözinger: Das ist keine medizinische Frage, sondern eine Bewertung, die sehr vom Betrachter und vom Kontext abhängt. Manches ADHS-typische Verhalten kann Spontaneität, Kreativität, Energie, Enthusiasmus, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Mut und Risikobereitschaft ausstrahlen und andere Menschen positiv anregen und beeinflussen. Wenn dieses Verhalten aber immer und mit hoher Intensität gezeigt wird, führt es eher zum Nachteil der Betroffenen. Eine Therapie kann den Patienten befähigen, Verständnis und Intuition für diese Balance zu entwickeln.
Infokasten 1:
apl.-Prof. Dr. med. Michael Grözinger ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Neurologie. Er arbeitet im Bereich Forschung und Lehre der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Uniklinik RWTH Aachen.
Infokasten 2:
Kontakt:
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
ADHS-Ambulanz
Tel.: 0241 80-89638
E-Mail: ps-ambulanzen@ukaachen.de
Infokasten 3:
ADS
Bei einer Aufmerksamkeits-Defizit-Störung (kurz: ADS) sind Betroffene oft unkonzentriert und unaufmerksam, lassen sich leicht ablenken, wirken oft in Gedanken versunken oder in sich gekehrt, leiden aber nicht an einer hyperaktiven Verhaltensauffälligkeit. Die Symptome von ADS und ADHS gehen ansonsten fließend ineinander über.