Bei rekonstruktiven tumorchirurgischen Eingriffen im Kopf-Hals-Bereich stehen nicht allein ästhetische Aspekte, sondern vor allem das Erhalten oder Wiederherstellen von Funktionen wie Schlucken, Sprechen oder Atmen im Vordergrund. Im Interview gewährt Univ.-Prof. Dr. med. Markus Wirth, Direktor der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie und kommissarischer Leiter der Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen an der Uniklinik RWTH Aachen, einen Einblick in ein spannendes operatives Themengebiet.
Herr Prof. Wirth, wenn von rekonstruktiver Tumorchirurgie im Kopf-Hals-Bereich die Rede ist – was genau versteht man eigentlich darunter?
Prof. Wirth: Der Kopf-Hals-Bereich zählt zu den anatomisch komplexesten Bereichen des menschlichen Körpers. Hier befinden sich Sinnesorgane, Nerven und Gefäße, die für Schlucken, Sprechen, Hören, Riechen oder Mimik wichtig sind, in enger Nachbarschaft zueinander. Nach der Entfernung eines Tumors ist es deshalb wichtig, nicht nur das fehlende Gewebe zu ersetzen, sondern auch sicherzustellen, dass die Funktion wieder hergestellt wird. Hierzu stehen mittlerweile komplexe Rekonstruktionsverfahren zur Verfügung, bei denen zum Beispiel Gewebe vom Unterarm in den Hals transferiert werden kann, um den Schlund wiederherzustellen. Dazu werden die Gefäße mit haarfeinen Fäden mikrochirurgisch an die Halsgefäße angeschlossen. Dabei ist auch nicht ein Operateur oder eine Operateurin ausreichend, sondern es wird in Teams operiert – ein Team entfernt den Tumor, ein Team hebt das Transplantat und rekonstruiert den Gewebsdefekt an der Tumorstelle. Die Belastung durch größere Eingriffe muss insbesondere bei älteren Patientinnen und Patienten jedoch an die Wahl des chirurgischen Verfahrens angepasst werden. Wir planen daher jeden Eingriff individuell.
Welche Verfahren stehen Ihnen für eine Rekonstruktion zur Verfügung?
Prof. Wirth: Die alleinige Tumorentfernung würde häufig das äußere Erscheinungsbild der Patientinnen und Patienten verändern und die Fähigkeit zu kauen, zu sprechen oder zu schlucken erheblich beeinträchtigen. Um Defekte zu rekonstruieren können in Abhängigkeit von der Größe des Defektes und beteiligten Strukturen einfache Verfahren wie örtliche Lappenplastiken bis hin zu aufwändigen Rekonstruktionen inklusive der mikroskopischen Nervennaht zum Einsatz kommen. Bei einer Lappenplastik wird ein Hautlappen, gegebenenfalls in Kombination mit Muskel- oder Fettgewebe, von einer anderen Körperstelle entnommen und an die operierte Stelle im Kopf-Hals-Bereich transferiert. Die bewährten operativen Verfahren sind vielfältig, so dass es letztlich immer auf den jeweiligen Einzelfall ankommt.
Wie kann sich ein Eingriff auf das Schlucken und die Stimme auswirken?
Prof. Wirth: Je nachdem, welche Strukturen betroffen sind, können Schluckstörungen, sogenannte Dysphagien bis hin zur Schluckunfähigkeit oder Sprechprobleme auftreten. Zum Beispiel kann die Stimme nach einem Eingriff am Kehlkopf stark beeinträchtigt sein. Schluckstörungen können vor allem bei Eingriffen im Rachenbereich entstehen. Neben der chirurgischen Rekonstruktion ist häufig eine gezielte Sprach- oder Schlucktherapie sinnvoll, um die geschwächte Muskulatur zu stärken, die Koordination zu verbessern und Kompensationsmechanismen zu entwickeln.
Was müssen Patientinnen und Patienten nach dem chirurgischen Eingriff beachten?
Prof. Wirth: In den ersten Tagen nach der Operation überwachen wir vor allem die Wundheilung und die Durchblutung des transplantierten Gewebes oder der Lappenplastik. Je nach Lage des Tumors und Umfang des chirurgischen Eingriffs kann das Schlucken Schwierigkeiten bereiten. Hier kann eine weiche, dickflüssige oder pürierte Kost oder eine vorübergehende Ernährung über eine Magensonde notwendig sein. Zum Schutz der Atemwege ist zum Teil auch ein in der Regel vorübergehender Luftröhrenschnitt notwendig. Wunddrainagen werden meist am zweiten bis vierten Tag entfernt. Uns sind dabei die schnellstmögliche Rehabilitation und das Wiedererlangen der Funktion sehr wichtig. Erfahrene Logopädinnen und Logopäden unterstützen dabei, die geschwächte Muskulatur zu stimulieren, bei Bedarf neue Schlucktechniken zu erlernen oder die Stimme zu trainieren. Zusätzlich helfen physiotherapeutische Maßnahmen nach größeren Operationen wieder aktiv zu werden.
Wie steht es um die Lebensqualität nach einem rekonstruktiven Eingriff im Kopf-Hals-Bereich?
Prof. Wirth: Die Verarbeitung der Krebsdiagnose, die intensive Therapie und durch die Erkrankung und die Behandlung bedingte Funktionseinbußen führen häufig zu einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität. Unser Ziel in der Tumortherapie besteht darin, die optimale Balance zwischen größtmöglichem Erhalt der Funktion und der sicheren Entfernung des Tumors zu erreichen. Wir behandeln dabei jede Patientin und jeden Patienten individuell, um eine funktionelle sowie ästhetische Rekonstruktion zu ermöglichen, damit ein weitestgehend normales Leben geführt werden kann. Der vollständige Erhalt der Funktion ist dabei jedoch nicht immer möglich. Durch logopädische und physiotherapeutische Therapie können in diesen Fällen wichtige Kompensationsmechanismen erlernt werden, um die Lebensqualität zu steigern. Als Tumorzentrum bieten wir niederschwellig psychologische Unterstützung an, die im Umgang mit der neuen Situation hilft. So kann nach einer erfolgreichen Therapie die Lebensqualität häufig wieder Bereiche wie in der Normalbevölkerung erreichen.
Die drei wesentlichen Therapieansätze bei Kopf- und Hals-Tumoren sind die Operation, die Strahlenbehandlung und die Chemotherapie inklusive der Immuntherapie. Die Ansätze kommen dabei allein und in Kombination zum Einsatz. Das Team rund um Prof. Wirth arbeitet dabei eng mit den benachbarten Fächern im Rahmen des interdisziplinären Kopf-Hals-Tumorzentrums zusammen, um die individuell bestmögliche Therapie zu ermöglichen.
Das Krebszentrum der Uniklinik RWTH Aachen bietet Patientinnen und Patienten mit einer Krebserkrankung eine fachübergreifende, interdisziplinäre und umfassende Versorgung. Wichtig ist dabei die enge Absprache der verschiedenen Spezialisten bei Diagnostik, Therapie, Vor- und Nachsorge sowie im Hinblick auf Studien zur Erforschung von Tumorerkrankungen.
Centrum für Integrierte Onkologie – CIO Aachen
Uniklinik RWTH Aachen
Pauwelsstraße 30
52074 Aachen
Allgemeine Anfragen
Tel.: 0241-80 89679
Fax.: 0241-80 82136
cio@ukaachen.de